Round-Table-Gespräch: Digitalisierung passiert gerade

Aktuell befinden sich viele Unternehmen an einem Wendepunkt. Die Corona-bedingte Krise diente als Vergrößerungsglas und förderte zu Tage, wo strukturelle, aber auch strategische Hindernisse bei vielen Unternehmen liegen. Im Rahmen unserer Value Talks diskutierten darüber Michael Heinz, Associated Partner bei advacon und Experte für Digitalisierung, und Andreas Tielmann, Associated Partner bei advacon, Wirtschaftsexperte und langjähriger Geschäftsführer der IHK Lahn-Dill, mit Torsten Drewes, Projektmanager Marketing bei advacon und Spezialist für digitale Kommunikation.

Torsten Drewes: Seit Anfang des letzten Jahres wird hierzulande intensiv darüber diskutiert, wie die Digitalisierung schneller und besser umgesetzt werden kann. Wie ist Ihre Einschätzung zu diesem Thema?

Andreas Tielmann: Zunächst gilt es festzuhalten, dass das Thema Digitalisierung schon seit Langem bei vielen Unternehmen auf der Agenda steht – die Corona-Pandemie hat lediglich noch einmal die Dringlichkeit dieses Themas in das Bewusstsein vieler Unternehmer gebracht. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass allein durch Mitarbeiter, die jetzt via Onlinekonferenzen und Laptop von zuhause arbeiten, die Digitalisierung der Unternehmen vorangetrieben wird.

Michael Heinz: Ganz genau. Eine echte digitale Strategie umfasst viel mehr. Es geht um die Digitalisierung von Prozessen, die Vernetzung von Produktion und Service oder die Entwicklung neuer digitaler Produkte oder Services. Es geht auch darum, dass Mitarbeiter digital denken und die IT nicht als ein notweniges Übel, sondern als Chance betrachten.

Andreas Tielmann: Und es reicht nicht, nur auf die eigenen internen Abläufe zu schauen. Die Unternehmen müssen ihre Position im globalen Marktgeschehen neu bewerten. Auch über die vertikalen Lieferketten hinaus, im Zusammenspiel mit Kunden und Lieferanten, eröffnet die Digitalisierung Optionen für neue attraktive Dienstleistungen und effektivere Abläufe. Handlungsdruck kann aber auch dadurch entstehen, dass nur ein Player in der langen Lieferkette auf digitale Schnittstellen umstellt. Wer dann nicht vorbereitet ist und reagieren kann, ist auf einmal nicht mehr dabei. Zudem werden die überall in großen Mengen anfallenden Daten zum Kern neuer Geschäftsmodelle. Hier geht es darum, die Lufthoheit zu behalten und nicht in einseitige Abhängigkeiten von neu entstehenden Plattformen zu geraten.

Torsten Drewes: Kann diese digitale Transformation in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie diesen überhaupt gelingen?

Andreas Tielmann: Die Corona-Krise war wie ein Vergrößerungsglas. Sie hat vielen Unternehmen aufgezeigt, wo Defizite bestehen. Das betrifft nicht nur die Digitalisierung. Denken Sie beispielsweise an die Lieferengpässe aus Asien oder die veränderte Mobilität der Menschen – das hat unmittelbare Auswirkungen auf produzierende Unternehmen. Diese müssen sich jetzt zwangsläufig fragen, wie sie ihre Lieferketten zukunftssicher aufstellen oder ob ihr Geschäftsmodell noch den aktuellen Marktanforderungen entspricht.

Michael Heinz: Genau das erleben wir derzeit bei einer Vielzahl an mittelständischen Unternehmen. Sie sind getrieben vom Markt oder vom Kunden und verwehren oftmals den Blick auf die strategische Ausrichtung des Unternehmens. Eines ist aber ganz klar: Die Digitalisierung passiert gerade – Unternehmen stellt sich also eigentlich nur die Frage, ob sie dabei sein wollen oder nicht.

Andreas Tielmann: Diese Krise bietet die einmalige Chance, neue Wege zu gehen. Jetzt ist die Zeit für Veränderungen, jetzt ist die Zeit, Entscheidungen zu treffen. Viele Unternehmen haben ja gerade unter dem Druck der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass Veränderungen möglich sind und die Mitarbeiter auch mitmachen.

Torsten Drewes: Welche Bereiche können Unternehmen daran hindern, sich neu auszurichten?

Michael Heinz: Wachstumsschwellen gibt es in vielen Bereichen. Denken wir nur an die Unternehmensorganisation oder die Rekrutierung von Mitarbeitern. In Zukunft wird es fast egal sein, wo die Mitarbeiter arbeiten. Viel wichtiger wird die Frage, wie die Teams zusammengestellt sind. Wie organisiere ich als Unternehmen die Arbeit in agilen Teams, und wie sorge ich bei einer dezentralen Zusammenarbeit für eine Identifikation mit dem Unternehmen und der Marke?

Andreas Tielmann: Auch die Demografie, schon lange in aller Munde, wird in den nächsten Jahren den Arbeitsmarkt auf den Kopf stellen und den Fachkräftemangel deutlich verschärfen. Für zwei Mitarbeiter, die das Unternehmen altersbedingt verlassen, steht am Arbeitsmarkt rein rechnerisch nur einer zum Nachrücken bereit – und das häufig mit einer Qualifikation, die nicht unbedingt zu den Herausforderungen unserer Technologieregion passt. Es ist also schon eine große Herausforderung, nur den aktuellen Stand zu halten – da reden wir noch gar nicht von Wachstum. Auch hier kommt die Digitalisierung ins Spiel. Zum einen, um notwendige Produktivitätssteigerungen zu ermöglichen, zum anderen, um mit Werkzeugen der KI auch komplexere Aufgabenstellungen zu unterstützen oder gar zu übernehmen.

Michael Heinz: Ein weiterer wichtiger Bereich ist das Marketing. Wie gelingt dort der Wechsel weg vom darstellenden hin zu einem lebendigen Marketing? Leider erleben wir regelmäßig, dass zum Beispiel die Webseite nur als digitale Visitenkarte eines Unternehmens genutzt wird, was vielleicht 10 bis 20 Prozent des Funktionsumfanges eines agilen Kundenportals darstellt. Es gilt durch gezielte Maßnahmen ein unbewusstes Unternehmens-Marketing ins Bewusstsein aller Mitarbeiter zu bringen.

Torsten Drewes: Kann oder muss sich denn jedes Unternehmen neu erfinden?

Andreas Tielmann: Sicherlich beschäftigen sich viele Unternehmen derzeit vorrangig mit der Frage, wie sie ihre Liquidität und ihre finanzielle Stabilität sichern können und nicht mit disruptiven Änderungen ihres Geschäftsmodells. Hier muss man natürlich genau hinschauen, da die Voraussetzungen bei jedem Unternehmen andere sind. Notwendig ist in jedem Fall eine Positionsbestimmung. Wichtig ist, dabei auch externe Einflüsse zu berücksichtigen. Politische Entscheidungen wie zur Elektromobilität krempeln im Moment ganze Märkte um. Wir erleben eine Zeit des Umbruchs, in der sich die Anforderungen an Unternehmen mit hoher Dynamik verändern. Gerade für KMUs ist es eine große Herausforderung, dabei alle relevanten Aspekte im Blick zu behalten. Aus meiner Erfahrung der letzten Jahre habe ich mitgenommen, dass bei der jetzt notwendigen Positionsbestimmung der Blick von außen, die Einbeziehung der Perspektive von Experten außerhalb des eigenen Unternehmens, sehr wertvoll sein kann. Bei advacon organisieren wir dazu beispielsweise runde Tische, um im unverbindlichen Rahmen diesen Austausch zu ermöglichen. Ich bin für die Zukunft sehr zuversichtlich, denn gerade in unserer Region, die durch eine hohe technische Innovationskraft und Vielfalt geprägt ist, ist  die Bereitschaft zur Digitalisierung und den damit verbundenen Veränderungen sehr groß. 

Sie interessieren sich für unsere Value Talks und möchten gerne zusammen mit uns über aktuelle Wirtschaftsthemen diskutieren? Wir veranstalten in regelmäßigen Abständen Roundtable-Gespräche, zu denen wir Sie herzlich einladen. Alle Informationen sowie Anmeldemöglichkeiten finden Sie hier.